In einem früheren Artikel habe ich geschrieben, dass das Coronavirus uns alle betrifft – unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sozialem Status. Dem ist so und dennoch gibt es natürlich Gruppen, die in besonderer Weise von der Corona-Pandemie betroffen sind. Aus einem medizinischen Standpunkt sind Menschen mit Vorerkrankungen oder ältere Mitbürger*innen einer größeren Gefahr ausgesetzt. Es gibt aber auch Gruppen, die aus sozialer Sicht benachteiligt werden. Von Gewalt betroffene Frauen etwa, die nun mit ihren Tätern in den eigenen vier Wänden ausharren müssen, von Einsamkeit bedrohte Senior*innen, die die Zeit alleine in ihren Wohnungen verbringen, und auch Kinder und Jugendliche, die von häuslicher/sexueller Gewalt und von Vernachlässigung bedroht sind oder anderweitig Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe benötigen.
Zur letzten Gruppe habe ich eine Anfrage an das Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gestellt und wollte darin wissen, wie sich die Staatsregierung die betroffenen bayerischen Kinder und Jugendlichen während der Corona-Epidemie weiterhin unterstützt. Die Anfrage und die Antwort des Staatsministeriums finden sich unterhalb dieses Artikels.
Einige Maßnahmen wurden von der Staatsregierung auf diesem Feld bereits umgesetzt. So wurde die Kinder- und Jugendhilfe als systemrelevant eingestuft, die Möglichkeit einer Notbetreuung bei Kindeswohlgefährdung besteht und die Umstellung von Beratungen auf Telefon und Onlinedienste ist erfolgt. Auf dem ersten Blick wurde hier vieles richtig gemacht.
Ein Blick in die Praxis verdeutlicht aber die Probleme, vor der wir als Gesellschaft während der Corona-Krise im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe stehen. Eine Gruppe von 100 Wissenschaftler*innen hat sich in einem Appell an die Politik gewandt und gefordert, den Kinderschutz auch in Zeiten der Pandemie zu stärken.
Gerade jetzt, wenn noch mehr betroffene Kinder und Jugendliche in der Isolation des eigenen Hauses ihre Zeit verbringen, muss das Kindeswohl geschützt werden. Kinder vertrauen sich oft nur denjenigen an, die ihnen am nächsten stehen. In einer Zeit, in der Schulen geschlossen, Freunde nicht besucht werden dürfen und Pädagog*innen keinen regelmäßigen Umgang mehr mit den Kindern haben, fällt diese Hilfe aus. Wir müssen sicherstellen, dass die Kinder und Familien, die Unterstützung durch die (ambulante) Kinder- und Jugendhilfe benötigen, diese Chance auch wirklich erhalten.
Die Jugendämter waren zum Teil schon vor der Corona-Krise personell unterbesetzt. Zum Teil reichen die Kapazitäten jetzt nicht aus, um den Kindern in Not zu helfen. Es darf aber nicht sein, dass deshalb Kinder aus stationären Einrichtungen oder Wochengruppen nach Hause entlassen werden, weil nicht ausreichend Kapazitäten zur Betreuung vorhanden sind, oder der Infektionsschutz in den Einrichtungen nicht ausreichend ist. In vielen Jugendämtern fehlt zudem ausreichend Schutzausrüstung, um in Zweifelsfall in die Familien hineinzugehen. Es heißt in der Antwort zur Anfrage: „Hilfen zur Erziehung [z.B. aufsuchende, familienbezogene Hilfe] …. sind dabei auf die Erfordernisse des Infektionsschutzes in Abstimmung mit dem staatlichen Gesundheitsamt vor Ort anzupassen.“ Das kann aber in der Praxis in der aktuellen Krise eben auch bedeuten: Wenn die Schutzausrüstung nicht bereitsteht, kann gegebenenfalls keine Hilfe zur Erziehung geleistet werden. Dieser Ansatz wäre extrem gefährlich und darf so in der Realität nicht umgesetzt werden.
Natürlich müssen die Mitarbeitenden in den Ämtern geschützt werden. Das Kindeswohl darf aber nicht zurückgestellt werden, nur weil in den vergangenen Jahren am falschen Ende gespart wurde.
Das passt aber auch in das aktuelle Lagebild, wonach in einigen Jugendämtern in Bayern die Mitarbeitenden nur noch bei Notfällen, also bei Fällen der akuten Kindeswohlgefährdung, in die Familien gehen. Bei allen anderen Fällen wird über das Telefon, per E-Mail oder Videochats mit gefährdeten Familien Kontakt gehalten. Diese elektronische Betreuung ist durchaus hilfreich in bestimmten Fällen. Sie reicht aber oftmals nicht aus. Wie kann das Jugendamt adäquat Notfälle einschätzen, wenn es nicht vor Ort ist? Kann eine Eskalation hin zur akuten Kindeswohlgefährdung über Onlinedienste oder per Telefon überhaupt verhindert werden? Gerade die Fälle abseits des „Extremen“ laufen Gefahr, in der Corona-Krise aus dem Blick zu geraten.
Deshalb muss die bayerische Staatsregierung jetzt präventiv agieren und die notwendigen Strukturen schaffen bzw. die finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung stellen, um den Betroffenen in dieser schwierigen Zeit echte Hilfe zur Verfügung zu stellen. Die Kommunen sind zwar zuständig für die Kinder- und Jugendhilfe, aber die Staatsregierung muss den Rahmen dafür schaffen, dass diese Aufgabe erfüllt werden kann. Dazu gehören:
- ausreichend Schutzausrüstung für die Jugendämter, damit eben nicht nur akute Kindeswohlgefährdung, sondern auch andere Dienste wie Hilfen zur Erziehung weiterhin durchgeführt werden können. Auch in anderen Bereichen wie dem Gesundheitsdienst wird weitergearbeitet. Wenn Kinderschutz systemrelevant ist, dann darf hier nicht mit einem pauschalen Verweis auf eine Gefährdung der Allgemeinheit die ambulante Hilfe so drastisch zurückgefahren werden.
- ausreichend Personal in den Jugendämtern, damit die Arbeit in der Krise intensiviert werden kann statt heruntergefahren wird. Die Kinder brauchen jetzt mehr Hilfe als zuvor. Wer jetzt die Hilfen herunterfährt, der gefährdet unter Umständen das Kindeswohl. Die Mitarbeiter*innen in den Jugendämtern wollen den Menschen helfen. Wir müssen nun politisch sicherstellen, dass Sie personell und materiell ausgestattet sind, um diesen Job zu leisten.
- Eine klare Empfehlung dazu, wann ein Jugendamt Notbetreuung anzuordnen hat. In der Allgemeinverfügung des StmGP heißt es: „zur Sicherstellung des Kindeswohls“ kann Notbetreuung angeordnet werden. Die Auslegung wird aber dann von Jugendamt zu Jugendamt getroffen. Eine präventive bzw. möglichst breite Auslegung wäre hilfreich. Zum Beispiel könnte allen Familien, die Hilfen zur Erziehung erhalten, die Notbetreuung automatisch angeboten werden. Die Kapazitäten in der Notbetreuung wären aktuell vorhanden und man würde damit präventiv handeln, statt zu reagieren, wenn es fast schon zu spät ist.
Das muss unser Ansatz sein: Jetzt präventiv vorsorgen, statt zu spät nachsteuern, denn Kinder und Jugendliche dürfen auch in Krisenzeiten nicht zu spät die Hilfe erhalten, die sie benötigen. Wir haben noch die Zeit und wir haben die Ressourcen, um die entsprechenden Änderungen umzusetzen. Was es braucht ist eine Ministerin, die diese Herausforderungen konsequent angeht. Zum Wohl der betroffenen Kinder und Familien.
Anfrage der Abgeordneten Eva Lettenbauer zum im Sitzungsplan vorgesehenen Plenum am 01.04.2020
„Vor dem Hintergrund, dass die Corona-Pandemie gerade auch für bestimmte Gruppen besondere Nachteile mit sich bringt, weil etwa not-wendige Strukturen, wie z.B. die Kinder- und Jugendhilfe oder andere Angebote der Jugendämter einem Stresstest ausgesetzt sind, bzw. weil nun Kinderund Jugendliche auf Grund der Ausgangsbeschränkungen mehr Zeit in einem Elternhaus verbringen müssen, in dem sie bereits Gewalterfahrungen o.Ä. gesammelt haben, frage ich die Staatsregierung: Welche konkreten Anstrengungen unternimmt die Staatsregierung, um die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe auch in Zeiten der Corona-Pandemie aufrecht zu erhalten; d.h. dass zwar einerseits das gesundheitliche Wohlergehen der Mitarbeiter*innen der Jugendämter bzw. der freien Träger in der Kinder- und Jugendhilfe sichergestellt wird, aber andererseits auch die spezifischen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nach Hilfe weiterhin bedient werden können, gibt es eine einheitliche Linie des Landesjugendamts für alle Jugendämter in Bayern bzgl. einer Notfallversorgung und einer Weiterfinanzierung
der verschiedenen ambulanten bzw. (teil-)stationären Angeboten (z.B. Jugendhäuser oder Schulsozialarbeit), um eine einheitliche Versorgungsqualität in der Fläche zu gewährleisten und welche Schutzvor-kehrungen trifft die Staatsregierung konkret für Kinder, die in Heimen bzw. in Pflegefamilien untergebracht werden müssen bzw. bereits untergebracht sind, um sie einerseits vor einer Infektion z.B. in den Ein-richtungen zu schützen und andererseits die notwendige Hilfe (Herausnahme aus der Familie, etc.) zukommen zu lassen?“
Antwort durch das Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales:
Die Kinder- und Jugendhilfe wird im eigenen Wirkungskreis der Kommunen umgesetzt. Die Kommunen haben dabei die Leistungsgewährung im gesamten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sicherzustellen (in Kooperation mit den freien Trägern). Die bayerischen Jugendämter nehmen ihre Aufgabe gemeinsam mit den freien Trägern der Jugend-hilfe auch in dieser Krisenzeit sehr verantwortungsvoll und wachsam wahr.
Zur Unterstützung der Praxis wurden auf der Landesebene vom StMAS in Bezug auf die erforderlichen, der Krisensituation angepasste Lösungen verschiedene Handlungsempfehlungen veröffentlicht, die gemeinsam mit der Praxis laufend aktualisiert werden (z.B. zur Notbetreuung in den Kitas, für die stationären Einrichtungen etc.). Ferner haben die Kommunalen Spitzenverbände in Abstimmung mit dem StMAS landesweite Empfehlungen zur Sicherstellung der bedarfsgerechten Jugendhilfeversorgungsstrukturen und deren Finanzierung gegeben. Zur Schaffung von Handlungssicherheit für die Fachkräfte und für die Familien stellt das StMAS alle relevanten Informationen auf der Home-page des StMAS zur Verfügung (siehe unter: https://www.stmas.bay-ern.de/coronavirus-info/corona-kinder.php).
Insbesondere die Angebote und Leistungen im Bereich der Hilfen zur Erziehung sind weiterhin dringend erforderlich und werden auch entsprechend den Bedarfen von Familien angeboten. Die Leistungen sind dabei auf die Erfordernisse des Infektionsschutzes in Abstimmung mit dem staatlichen Gesundheitsamt vor Ort anzupassen.
So treten beispielsweise die Jugendämter sowie die flächendeckend in Bayern vorhandenen Erziehungsberatungsstellen verstärkt über Mess-enger-Dienste mit den betreuten Familien in Kontakt, sie richten kurzfristig Krisentelefone ein, stellen auf Mailberatung etc. um und bieten auf diese Weise die notwendigen Hilfestellungen. Soweit zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung ein Hausbesuch im Rahmen des Schutzauftrages des Jugendamtes erforderlich ist, wird dieser auch durchgeführt.
Kinder können außerdem im Einzelfall in der Notbetreuung einer Kindertageseinrichtung, Kindertagespflegestelle bzw. Heilpädagogischen Tagesstätte betreut werden, wenn dies nach fachlicher Einschätzung des zuständigen Jugendamts zur Sicherstellung des Kindeswohls erforderlich ist und im Einzelfall von diesem angeordnet wurde.
Die JaS-Fachkräfte haben grundsätzlich unabhängig von den Schul-schließungen ihre Erreichbarkeit für die Schülerinnen und Schüler per E-Mail oder Telefon sichergestellt
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